"Bevor du jemandem körnigen Frischkäse andrehst, guck doch mal, was die Person sonst im Türkischen Supermarkt kauft."

Die Journalistin Anna Aridzanjan hat beides erlebt: Eine restriktive Ernährungsberatung und eine ergänzende. Bild: Manuel Kostrzynski


Essen ist so viel mehr als Nahrungsaufnahme. Frisch zubereitetes Essen, das ist auch ein Zeichen von Liebe. Bestimmte Gerichte haben Magie. Sie katapultieren uns zurück in die Kindheit, zu unserer Familie oder Erlebnissen mit Freunden.

Deshalb kann sich eine Ernährungsberatung, bei der die Speisen und Lebensmittel, die einem viel bedeuten, plötzlich gestrichen sind, auch psychisch belastend anfühlen.

Besonders betroffen davon sind migrantische und migrantisch gelesene Menschen in Deutschland. Sogenannte cultural foods gelten oftmals als ungesund und kommen in der Standard-Ernährungsberatung und den dazugehörigen Ernährungsbroschüren nicht unbedingt vor. Schnell heißt es dann: Zu Fett, zu Fleischlastig und zu viele Kohlenhydrate.

In einer Studie rund um die Wissenschaftlerin Judith Parson in Großbritannien berichteten Schwarze Frauen von Stigmatisierungen, die sie in der Ernährungsberatung erlebt hatten. In den USA setzen sich Organisationen wie "
Eatwell Exchange" für eine Ernährung mit kulturellem Fokus ein. Sie schulen sowohl Communities als auch weiße ErnährungsberaterInnen, damit diese sensibler agieren. In Deutschland gibt es die Arbeitsgemeinschaft "Diabetes und Migranten" von der Deutschen Diabetes Gesellschaft. 


In der Ernährungsberatung in Deutschland heißt es noch zu oft: "Hä, daran habe ich jetzt gar nicht gedacht", sagt Anna Aridzanjan.

Die Journalistin erwartet gerade ihr zweites Kind. Was sie in ihren Schwangerschaften bei unterschiedlichen Ernährungsberaterinnen erlebt hat, für welches armenische Gericht es von ErnährungsberaterInnen Applaus gibt und warum türkisches Menemen das beste Frühstück für Schwangerschaftsdiabetikerinnen ist, erzählt sie im Interview. 

Anna, wir wollen heute über cultural foods sprechen. Was ist das eigentlich? 

Migrantisch geprägtes essen, da nähert man sich an, glaube ich. Aber es ist schwierig, es auf Deutsch in Worte zu fassen. Normalerweise ist die deutsche Sprache ja sehr effektiv darin, Worte zu finden für Dinge, für die man sonst keine Worte hat. Es gibt im Englischen ja auch den Running Gag: "Is there a german word for...?" Vielleicht ist es aber auch ein Prozess, dass erst das Thema noch mehr behandelt werden muss und dass sich dann ein Begriff festsetzt und in der Praxis ankommt. Denn Essen, das ist ja nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern auch erlernte Esskultur. 

Du hattest bei deiner ersten und jetzigen Schwangerschaft Gestationsdiabetes, was sind deine Erfahrungen in Bezug auf cultural foods? 

In meiner ersten Schwangerschaft vor vier Jahren war ich bei einer sehr restriktiven Beraterin. Kein Zucker, kein Honig, keine Weissmehlprodukte. Und wenn Vollkornprodukte dann mit ganz viel Eiweiß und dazu noch pflanzliche Fetten. Und es hieß, ich solle viel Obst und Gemüse essen. Als ich dann die Liste mit Obst und Gemüse sah, war die auch wieder unterteilt! In gutes und schlechtes Obst und Gemüse. Also je nachdem, ob es einen hohen oder niedrigen glykämischen Index hat. Und all das Obst und Gemüse, dass ich lecker finde, stand auf der bösen Seite. Zusätzlich wurde mir auch noch empfohlen, den Fleischkonsum runterzuschrauben. Das widersprach komplett meiner Ernährung, meinem Geschmack und auch meinem Körpergefühl. 

Puh, was könnten Profis hier deiner Meinung nach besser machen? 

Es gibt ja zum Beispiel diese Ernährungshandbücher, die von Beraterinnen mitgegeben werden. Da stehen einerseits Rezeptvorschläge drin und dann so etwas wie: Bitte verzichten Sie auf Weissmehl. Meine Familie kommt aus Armenien und ich bin dort geboren. Und nur mal so: Die türkische und die armenische Küche sind voll mit Weissmehl. Vollkornmehl gibt es da praktisch nicht. Es ist kulturell bedingt eher eine Seltenheit mit Vollkornprodukten zu kochen. Das heißt aber nicht, dass die Küche ungesünder ist.

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Man sollte nicht bestimmte Lebensmittel komplett verteufeln. Das bedeutet nämlich für die Person die gegenübersitzt: "Mist, ich kann dann ja das leckere Fladenbrot, dass meine Mama mir immer mit gibt, gar nicht essen. Was mache ich denn da?" Sondern gucken, also im Gespräch bleiben: Wie ernährst du dich? Was ist dein Wohlfühlessen? Für viele ist es das Essen aus der Kindheit. Wie kann ich als Profi dir helfen, dass du es weiterhin essen kannst? 


Was ist denn dein liebstes Armenisches Kindheitsgericht? 

Was meine Eltern ständig gemacht haben, war Linsensuppe. Es gab in meiner Kindheit ganz viel mit weißen Bohnen, mit Kidneybohnen, mit Erbsen, mit Linsen. Linsensuppe ist für mich peak Kindheitsessen. Und egal welchem oder welcher ErnährungsberaterIn du von Linsensuppe erzählst, die klatschen dir Beifall. Armenische Küche ähnelt sehr der türkischen und hat auch Einflüsse der griechischen Küche und der orientalischen. Also wenn du das alles vermischt, hast du armenisches Essen. 

Das klingt sehr lecker und gesund. 

Absolut und genau das wird oft nicht in Betracht gezogen. Dass cultural foods gesund sind. Es heißt dann plötzlich: Glutamat aus der asiatischen Küche ist ungesund. Das stimmt einfach nicht.

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Oder auch Bubble Tea ist ungesund. Im Dönerladen wird der Salat nicht ordentlich gewaschen. Und machen wir uns nichts vor: All das ist purer Alltagsrassismus. Bis ein bestimmtes Lebensmittel dann als Superfood deklariert wird und dann plötzlich im türkischen Supermarkt nicht mehr zu kaufen ist, weil es plötzlich alle haben wollen. So war es zum Beispiel mit getrockneten Hülsenfrüchten, die man in so Riesensäcken kaufen kann. 


"Linsensuppe ist für mich peak Kindheitsessen", sagt Journalistin Anna Aridzanjan.


Wie ergeht es dir jetzt in deiner zweiten Schwangerschaft? 

In dieser Schwangerschaft mit einer neuen Diabetologin ist das alles ein bisschen lockerer. Und gelassener. Die ersten Wochen sollte ich noch Blutzucker messen und auch aufschreiben, damit wir dann schauen können, welche Lebensmittel welchen Effekt auf meinen Blutzucker haben. Nach zwei Wochen zeigte sich, dass meine Werte komplett stabil sind. Die ganze Ernährungsthematik ist bei meiner jetzigen Diabetesberaterin komplett in den Hintergrund gerutscht. Meistens, wenn es jetzt Ausreißer gibt, ist es der Nüchternwert morgens, wenn ich zu wenig geschlafen habe. Da kann ich die Uhr nach stellen. Und der Wert nach dem Essen, wenn ich Vollkornprodukte hatte. Bei mir treibt das den Wert nach oben. Oder der Klassiker: Nudeln, aber kein Eiweiß dazu. Nudeln mit Käsesauce sind eben besser als mit Tomatensauce. Ich möchte einfach nicht restriktiv beraten werden, sondern ergänzend. 


Wie glaubst du, könnte man gut mit dem Thema Ernährungsberatung und Cultural Foods umgehen? 

In Deutschland hat ein großer Teil der Menschen direkten und indirekten Migrationshintergrund. Die Menschen sind und aus den unterschiedlichsten Regionen und Kulturen. Es darf auf keinen Fall passieren, dass ErnährungberaterInnen dann sagen: "Sie essen bestimmt NUR Döner..." Menschen sind ganz unterschiedlich geprägt. Es gibt Menschen, die, was ihre Ernährung und ihren Alltag betrifft, sehr verwurzelt sind und zum größten Teil Türkische Gerichte oder Vietnamesische Gerichte kochen. Und es gibt Menschen, die machen einen Mischmasch und essen zum Beispiel einen Leberkäse mit einem türkischen Couscous-Salat. Andere sind ganz pragmatisch und essen einfach so, wie es gerade passt und praktisch ist. Und in Deutschland ist die Reaktion von Fachpersonal, nach meiner Erfahrung, oft eher so: "Hä? Ach, daran habe ich jetzt gar nicht gedacht." 


Hast du da ein Beispiel für? 

Bevor man einem Menschen schon wieder körnigen Frischkäse andrehen will, schau doch mal, ob die Person nicht eh Feta und etwas Quarkähnliches im Türkischen Supermarkt kauft. Und der Frau, die sich morgens Menemen (türkisches Rührei mit Tomate und Paprika) kocht sagen: "Super, das ist das perfekte Schwangerschaftsdiabetes-Frühstück!" Es gibt mehr als Haferflocken und Joghurt zum Frühstück. Und absolute Verbote von Speisen finde ich auch ganz schwierig. Man kann einer Schwangeren nicht alles an Essen verbieten, dass ihr schmeckt. Man kann mit ihr aber besprechen, was sie sonst gerne isst und was in ihrem Vorratsschrank so liegt. Und bitte nicht mit einem Rezeptvorschlag kommen: "Pumpernickel mit Fleischsalat" für eine Person, die noch nie in ihrem Leben Pumpernickel auch nur angesehen hat. 


Pumpernickel mit Quark, eine schwierige Empfehlung für eine Person, die noch nie in ihrem Leben Pumpernickel auch nur angesehen hat. 

 

Diese Verbote von Essen führen ja auch dazu, dass es einem plötzlich psychisch nicht gut geht. 

Essen hat auch einen starken psychischen Effekt und wenn ich mit der Diagnose Schwangerschaftsdiabetes die Ernährung so stark umstellen soll, dass ich nur noch Dinge essen soll, die mir kein Wohlfühlen bescheren, dann ist das doch scheiße. Und man nimmt der Schwangeren auch die Möglichkeit, sich intuitiv zu ernähren. Außerdem verträgt jeder Körper Nahrung auch ganz anders. Mit Verboten nimmt man der Person doch die Lebensfreude bis zum Ende der Schwangerschaft. Und psychischer Druck und Stress wirken sich schließlich auch negativ auf den Blutzucker aus. Ein anderer Punkt ist auch, dass es in vielen Kulturen diese westliche Diet-Culture auch nicht gibt. 

Wie meinst du das? 

In vielen Familien mit Migrationsgeschichte ist Essen machen und zubereiten oder auch nur Obst aufschneiden ein Zeichen von Liebe. Diese gemeinsamen Mahlzeiten mit "alle essen zusammen das Gleiche, was liebevoll gekocht wurde", ist normal und wichtig. Die Restriktionen und Regeln für Schwangere mit Gestationsdiabetes können dazu führen, dass es für die immer mehr "Extrawürste" gibt, sie diese liebevoll zubereiteten Dinge nicht oder nicht genauso gut mitessen können und sich von ihren Liebsten abgekapselt fühlen. 
Das kann das Körpergefühl und die Ernährung nachhaltig über die Schwangerschaft hinaus kaputtmachen. Da würde ich mir vom Fachpersonal wieder ergänzende Tipps wünschen. Zum Beispiel, wenn die Schwangere mit ihren Schwiegereltern zusammenlebt: "Dann wohnst du halt mit deinen Schwiegereltern zusammen und die kochen jeden Tag Pasta. Okay, dann koche dir halt noch eine Hähnchenbrust dazu, dann hast du Proteine und das verlangsamt die Aufnahme der Kohlenhydrate." Danach misst du deinen Blutzucker und schaust, ob das für dich funktioniert. Sodass du dich nicht noch zusätzlich in deiner Alltags- und Familiensituation isolieren musst. Sonst verbietet nicht nur eine bestimmte Ernährung, sondern sagt gleichzeitig: "Wie du mit deiner Familie deinen Alltag verbringst, das ist schlecht." 


Was könnte man im Hinblick auf Schwangerschaftsdiabetes und Cultural Foods noch besser machen? 

Ich finde die Beraterinnen und das Fachpersonal sollte mit den Schwangeren im Gespräch bleiben, so wie es jetzt bei meiner zweiten Beraterin läuft. Sie sollten erklären: "Natürlich dürfen Sie mal Fladenbrot essen oder auch mal Süßigkeiten. Messen Sie danach den Blutzucker und schauen, was es mit Ihnen macht. Und für bessere Werte: Bewegen Sie sich nach der Mahlzeit." Das ist für alle Menschen, egal aus welchem Kulturkreis sie kommen, angenehmer. Und man fühlt sich auch nicht so abgelehnt in der ganzen Alltags- und Lebensführung. Sonst kommt nämlich bei der Betroffenen an: "So wie du das machst, machst du das falsch." Außerdem sollte generell mehr Diversität gezeigt werden. Die Standard-Schwangere mit Schwangerschaftsdiabetes auf Youtube und in Blogs ist weiß. Das ist aber eben nicht die Realität. Schwangerschaftsdiabetes und auch die Ernährung dazu sind divers. Es wäre schön und wichtig, dass das auch abgebildet wird. 

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